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·22. August 2024
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Vor fünfzig Jahren endete mit dem 0:6 gegen die Offenbacher Kickers eine Ära - zu viele Freundschaftsspiele hatten die Weltmeister ausgelaugt
Erstmals seit elf Jahren gehen die Bayern weder als Titelverteidiger noch als Top-Favorit in eine Saison. Das muss nichts heißen für den Start am Sonntag in Wolfsburg, denn in dem Jahr, in das sie als größter Favorit aller Bundesligazeiten starteten, gab es die höchste Pleite eines Deutschen Meisters an einem ersten Spieltag – vor 50 Jahren. Eine Zeitreise in das Frankfurter Waldstadion und den Sommer nach der WM 1974.
Paul Breitner hat es kommen sehen. Kurz vor Beginn der Bundesligasaison 1974/75 nimmt er Reißaus zu Real Madrid und seine Abschiedsworte werden zum Menetekel für die Verbliebenen: "Die Bayern sind satt und brauchen vom Zeugwart bis zum Schuhputzer eine neue Motivation." Drei Mal in Folge Meister, erstmals im Besitz des begehrten Europapokals der Landesmeister und sechs aktuelle Weltmeister im Kader – welche Ziele hat so eine Mannschaft noch?
Der Verein jedenfalls hat welche – Kohle machen. Nie ist es attraktiver gewesen, den FC Bayern zu vermarkten als im Sommer 1974. Manager Robert Schwan weiß das, Präsident Wilhelm Neudecker auch – sie jagen die "am besten bezahlte Mannschaft Europas" in der Vorbereitungszeit über den Kontinent. Wien, Rotterdam, Brüssel, Sevilla, zwischendurch Kirchanschöring.
Vor dem Saisonstart in Frankfurt haben sie bereits 19 Spiele in den Knochen. Franz Beckenbauer stöhnt: "Es kommt der Tag, da machen wir zwei Spiele auf einmal." Die Weltmeister leiden besonders nach nur drei Wochen Urlaub. Es kommt, was kommen muss.
Im Waldstadion treffen sie am 1. Spieltag der Saison, die sie nach einer infas-Umfrage mit 94,4-prozentiger Wahrscheinlichkeit wieder als Meister beenden würden, auf die dorthin ausgewichenen Offenbacher Kickers.
Der Bieberer Berg ist nach Umbauten noch nicht ganz bundesligareif, gerne sind die Kickers ja nicht ins Waldstadion ausgewichen – denn Frankfurt ist für jeden echten Offenbacher Feindesland. Das erklärt auch, warum die damals wohl beste, zumindest am besten besetzte Mannschaft der Welt nur 35.000 Menschen sehen wollen, wo doch 60.000 hineingehen.
Im Forsthaus Gravenbruch in Neu-Isenburg beziehen die Bayern ihr Quartier. Am Vormittag des Spiels unkt Neudecker: "Ich bin zu gut gelaunt, meist geht dann was schief." Gewaltig schief sind auch die letzten Tests gegangen: 0:5 gegen Betis Sevilla und 1:5 gegen Racing Brüssel. Es klingelt nicht nur in der Kasse der Bayern, sondern auch im Kasten, den der große Sepp Maier hütet.
Aber dass sie am Ende einer Ära stehen, das wollen sie noch nicht wahrhaben. Mit Maier und Beckenbauer sowie Katsche Schwarzenbeck, Uli Hoeneß, Gerd Müller und Jupp Kapellmann laufen sie in Frankfurt auf – sechs Weltmeister, alle noch im Saft. Was soll da schon schief gehen?
Trainer Udo Lattek leistet es sich, zwei Neulinge aufzubieten: Klaus Wunder aus Duisburg und Bundesligadebütant Karl-Heinz Rummenigge aus Lippstadt. Selten beginnt eine derart große Karriere schlimmer, denn an diesem 24. August 1974 ist Kickers Offenbach, ein Team ohne Stars im zweiten Jahr nach dem Wiederaufstieg, zwei bis drei Nummern zu groß für die Bayern. Dass die nicht vor Selbstbewusstsein strotzen, wird allerdings deutlich, wenn wir Schwarzenbeck sagen hören: "Ein 2:2 wäre doch ein gutes Ergebnis."
Der Katsche selbst bringt sein Team dann aber auf die Verliererstraße, mit einem Eigentor (19.). Bei brütender Hitze und nach all dem Testspielstress schon wieder einem Rückstand nachlaufen – dazu sind die Bayern diesmal nicht in der Lage. Und nun patzen sogar die Weltstars: Sepp Maier erwartet einen Rückpass von Beckenbauer, der erwartet dass Maier herauskommt – und Dieter Schwemmle spritzt dazwischen, schlenzt dankend ins leere Tor (31.).
Mit 2:0 geht es in die Kabinen, die Kickers werden in der Pause vom jungen Trainer Otto Rehhagel noch mal richtig heiß gemacht. Zielwasser haben sie wohl auch getrunken: "Noch viermal schlug es hinter Sepp Maier ein – ansonsten aber war er nicht sonderlich beschäftigt", meldet der Münchner Merkur.
Was aufs Tor kommt, ist drin. Angetrieben vom späteren Karlsruher Bundesligatrainer Winfried Schäfer spielen sich die Kickers in einen Rausch und mit den großen Bayern Katz und Maus. Nach 49 Minuten schon die Entscheidung: Auf Vorlage von Siggi Held trifft Erwin Kostedde, der vier Monate später zum ersten dunkelhäutigen Nationalspieler avancieren sollte. In der 57. Minute drehen sie den Spieß um, auf Vorlage Kosteddes trifft Held frei vor Maier zum 4:0. Wir lesen im Merkur: "Mitte der zweiten Halbzeit waren die Bayern stehend k.o. und taumelten in das Stadium der Resignation."
Die Kickers dagegen wollen noch ein bisschen Spaß haben, Manfred Ritschels Flanke unterläuft Maier und Kostedde köpft zum 5:0 ein (72.). Nachdem Egon Bihn auf Vorlage des späteren Münchners Norbert Janzon das halbe Dutzend zum 0:6 vollmacht (89.), skandieren die Fans: „Sieben, sieben!“
Doch dazu lässt es der Hamburger Schiedsrichter Kurt Ohmsen nicht kommen, er pfeift pünktlich ab. Kurz zuvor noch vergibt Gerd Müller aus drei Metern eine Chance, die ein Gerd Müller normal nicht vergibt. Aber wenn Müller nicht mehr Müller ist, dann kann das Bayern der Siebziger eben nicht mehr Bayern sein.
"Sind sie wirklich so schwach? Das müssen die nächsten Spiele zeigen", stichelt ein Freude strahlender Rehhagel, während sein künftiger Erzfeind Udo Lattek die Fassung wahrt: "Der Sieg der Kickers geht in Ordnung, er ist jedoch zu hoch ausgefallen. Die Mannschaft ist jetzt natürlich am Boden zerstört, aber es hat keine Vorwürfe gegeben. Wir haben uns gemeinsam da rein geritten, nun müssen wir gemeinsam wieder raus."
Auch als Frankfurter Journalisten Lattek fragen, ob er dem Vorstand die Schuld gebe, antwortet er diplomatisch: "Nein. Wir müssen diese Spiele machen, der Verein hatte drei Monate keine Einnahmen. Monatlich sind aber 600.000 DM für die Lizenzspielerabteilung fällig. Das kann sich auch der FC Bayern nicht aus den Schuhsohlen rausziehen."
Schon am nächsten Tag spielen sie wieder – in Italien beim AC Cesena (1:1). Für ihre Geldgier zahlen die Bayern einen hohen Preis. Die Saison, die mit ihrer bis dato höchsten Niederlage begonnen hat, endet mit der schlechtesten Platzierung (10.) seit dem Aufstieg und Lattek wird nach der Vorrunde entlassen.
Die Ära der großen Bayern beginn zu zerbrechen. Sechs Jahre werden vergehen, bis zum nächsten Meistertitel. Wendepunkt Offenbach!
Fun Fact 1: Es war der einzige Offenbacher Heimsieg in sieben Duellen mit den Bayern – und das im fremden Stadion. Am Bieberer Berg gab es vier Unentschieden und zwei Niederlagen.
Fun Fact 2: Rummenigge rächte sich zehn Jahre später ausgiebig für sein verpatztes Debüt und erzielte im März 1984 bei seinem höchsten Bundesligasieg (9:0) zum einzigen Mal vier Tore.
Fun Fact 3: Kickers Offenbach und Kickers Stuttgart sind die einzigen Bundesligisten, die ihren höchsten Sieg ausgerechnet gegen die Bayern einfuhren. Den Stuttgartern reichte 1991 ein 4:1 – in München.
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