EM 2024 | Die Türkei vor dem Auftakt: Die Angst vor einer erneuten Enttäuschung | OneFootball

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·18. Juni 2024

EM 2024 | Die Türkei vor dem Auftakt: Die Angst vor einer erneuten Enttäuschung

Artikelbild:EM 2024 | Die Türkei vor dem Auftakt: Die Angst vor einer erneuten Enttäuschung

Alle Jahre wieder reist die türkische Nationalmannschaft mit einem eigentlich hochtalentierten Team und einer hohen Erwartungshaltung zur Europameisterschaft. Alle Jahre wieder nehmen diese aber ein zumeist enttäuschendes Ende. Gelingt der Türkei in diesem Jahr die Wende?

Türkei: Die Angst vor einer erneuten Enttäuschung

Der Tenor vor den Europameisterschaften 2016 und 2021 war aus türkischer Sicht ein ähnlicher. Man verfügte jeweils über einen hervorragend bestückten Kader, der vielleicht zu den stärksten in der eigenen Landesgeschichte gehörte. Die Erwartungshaltung war stets riesig, vor drei Jahren bekam die Türkei sogar aus einigen Ecken das Label „Geheimfavorit“ aufgedrückt.


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Die Situation vor dem heutigen Auftaktspiel gegen Georgien ist vergleichbar. Die individuelle Klasse der „Mond-Sterne“ ist enorm, die Unterstützung der Zuschauer wird es ebenso sein. Dementsprechend hoch sind auch die Ansprüche. Nimmt die Europameisterschaft 2024 aus türkischer Sicht diesmal ein besseres Ende als die vergangenen Turniere?

Istanbul-Lobby und Grüppchenbildung

Seit dem rot-weißen EM-Märchen 2008, wo die Türkei mit Kampfgeist und einer beeindruckenden Moral bis ins Halbfinale vordrang, ist die Bilanz bei großen Turnieren geradezu ernüchternd. Auf eine WM-Teilnahme wartet der TFF seit 2002, bei den besagten Europameisterschaften 2016 und 2021 schied man jeweils schon in der Gruppenphase aus.

Ein Blick auf den türkischen Talentpool lässt eigentlich nicht die Schlussfolgerung zu, konstant zu den Mannschaften zu gehören, die schon nach der Vorrunde die Segel streichen müssen. Seit mindestens zehn Jahren begeistern türkische Legionäre in den europäischen Top-Ligen, wobei vor allem in den letzten Jahren immer wieder auch hochtalentierte Youngster durchbrachen.

Woran liegt es also, dass die türkische Nationalmannschaft seit fast 20 Jahren stetig unterperformt? Laut dem Sportjournalisten Anil Polat gibt es dafür zahlreiche Gründe. Polat ist Chefredakteur beim News-Outlet GazeteFutbol, das auf deutsch über den türkischen Fußball berichtet. Unter anderem führt er die enorme Erwartungshaltung der türkischen Anhängerschaft an. „Wenn die Türkei ein Spiel verliert, wird das sofortige Aus des Trainers gefordert. Wenn die Türkei dagegen ein Spiel gewinnt, wähnt man sich überspitzt gesagt schon als Titelfavoriten“, erläutert Polat.

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(Photo by WOJTEK RADWANSKI/AFP via Getty Images)

Auch die Kaderzusammenstellung ist laut Polat in den vergangenen Jahren ein Problem gewesen. „Vereine wie Galatasaray, Fenerbahce oder Besiktas haben in der Türkei eine riesige Lobby, weshalb Spieler dieser Klubs oft Akteuren aus anderen europäischen Ligen vorgezogen werden“, so der Journalist. Eine ähnliche Ansicht vertrat Karl-Heinz Feldkamp, bis 2008 Trainer bei Galatasaray Istanbul, bereits vor 16 Jahren. „Die guten und richtigen Spieler werden nicht nominiert. Ich bin davon überzeugt: Ein Halil Altintop oder Yildiray Bastürk wären nicht nach Hause geschickt worden, wenn sie bei Besiktas oder Fenerbahce spielen würden. Die türkische Nationalmannschaft nutzt ihre Ressourcen nicht optimal“, klagte Feldkamp im Vorfeld der EM 2008.

Zudem ist die Grüppchenbildung innerhalb der Mond-Sterne laut Polat ein riesiges Problem. Ein ähnliches Muster erkannte Christioph Daum schon vor einigen Jahren. „Es gibt in der türkischen Nationalmannschaft drei Gruppen. Die erste Gruppe besteht aus den Spielern, die in der Türkei aufgewachsen sind und dort ausgebildet wurden. Dann sind da die Spieler, die in Europa aufgewachsen sind und dann in die Türkei gegangen sind. Die stehen oft zwischen den Stühlen. Und dann sind da noch die Spieler, die in Europa aufgewachsen sind und dort auch ausgebildet wurden“, so der langjährige Süper-Lig-Trainer.

Das Georgien-Spiel als Richtungsweiser

Gelingt es der Mannschaft des italienischen Trainers Vincenzo Montella während des Turniers in Deutschland die Differenzen der Vergangenheit hinter sich zu lassen? Fragt man Anil Polat, so steht und fällt alles mit dem Auftaktspiel gegen Georgien: „Die Partie gegen Georgien ist ein absolutes Make-or-Break-Spiel. Gewinnt man dort, kann die Türkei eine Welle treffen und frühere Probleme rücken in den Hintergrund. Verliert man allerdings, steht die Mannschaft bereits unter einem gewaltigen Druck und die Entlassung des Trainers wird gefordert.“

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(Photo by WOJTEK RADWANSKI/AFP via Getty Images)

Und tatsächlich: Die darauffolgenden Begegnungen gegen Portugal und Tschechien werden aus türkischer Sicht keineswegs leichter. Ein Auftaktsieg gegen den osteuropäischen Außenseiter kommt also einer Pflichtaufgabe gleich. Bei einem Unentschieden oder einer Niederlage könnte frühzeitig das erneute Vorrundenaus drohen.

Neben der eigenen Kaderqualität wird die Türkei dabei auch ein zweites Ass im Ärmel haben: Die laustarke Unterstützung ihrer eigenen Fans. Schon beim Freundschafsspiel gegen die DFB-Elf im vergangenen Herbst zeigten die türkischen Anhänger wieder einmal, was sie zu leisten im Stande sind, und verwandelten das Berliner Olympiastadion in einen rot-weißen Hexenkessel. Der 3:2-Erfolg rundete einen aus türkischer Sicht mehr als erfolgreichen Abend ab.

Überbordendes junges Talent

Der Prestigesieg über die deutsche Mannschaft stellt allerdings das letzte Ausrufezeichen der Montella-Truppe auf internationaler Bühne dar. Im Länderspieljahr 2024 kommen die Spieler vom Bosporus überhaupt nicht in Fahrt und sind nach vier Spielen noch sieglos. Negativer Höhepunkt war die 1:6-Niederlage gegen Österreich im März. Auch die Testspiele vor dem Turnier verliefen nicht nach Wunsch. Auf eine Nullnummer gegen Italien folgte eine 1:2-Pleite gegen Polen.

Die junge türkische Mannschaft, im Schnitt die jüngste der gesamten EM, wird sich zu Turnierbeginn also aus einem Formtief herauskämpfen müssen. Das Potenzial dazu ist auf jeden Fall gegeben – trotz Verletzungssorgen verfügt die türkische Mannschaft über riesiges Potenzial. Anführer und Kapitän ist Hakan Calhanoglu vom FC Inter, der sich in den letzten Jahren zu einem der besten Mittelfeldspieler Europas gemausert hat. Flankiert wird der ehemalige Bundesliga-Star von international erfahrenen Akteuren wie Merih Demiral, Zeki Celik oder Salih Özcan.

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(Photo by WOJTEK RADWANSKI/AFP via Getty Images)

Klare Identität des aktuellen Kaders ist jedoch die Jugend. Egal ob Ahmetcan Kaplan, Arda Güler oder Kenan Yildiz – die Südeuropäer strotzen nur so vor jungem Talent. Anil Polat rät den europäischen Fans außerdem ein ganz besonderes Auge auf Semih Kılıçsoy von Besiktas zu haben. „Er ist ein Riesen-Talent. Er ist wahnsinnig spielstark und definitiv die größte türkische Sturm-Hoffnung“, schwärmt Polat.

Dass es sich Montella leisten konnte mit Can Uzun einen weiteren jungen Hoffnungsträger daheim zu lassen, spricht für die extreme Qualität, über die der Kader insbesondere im Angriff verfügt. Im letzten Test gegen Polen lief Kılıçsoy vor einer Offensivreihe bestehend aus Kerem Aktürkoglu, Irfan Can Kahveci und Orkun Kökcu auf. Die Edeltechniker Güler und Yildiz brachte Montella als Joker von der Bank.

Die EM als Übergangsturnier?

Angesichts der Altersstruktur stehen der türkischen Mannschaft ihre besten Jahre vermutlich erst noch bevor. „Eigentlich wäre es sinnvoller, die aktuelle EM als eine Art Übergangsturnier im Hinblick auf die Heim-Europameisterschaft 2032 zu betrachten. Bei einem Turnier in Deutschland ist diese Erwartungshaltung jedoch nicht möglich, dafür wird auch die Unterstützung der Fans zu groß sein“, räumt auch Polat ein.

TFF-Vorstandmitglied Hamit Altintop gab das Erreichen des Achtelfinals als Ziel aus, danach wolle man von Spiel zu Spiel denken. Zieht man das enttäuschende Abschneiden in den vergangenen Jahren und die Stärke des aktuellen Kaders heran, so sollte ein Überstehen der Gruppenphase absolute Pflichtaufgabe sein. Spielt sich die Türkei in einen Rausch und lässt sich vom Support ihrer Anhänger beflügeln, ist diese Mannschaft definitiv nicht zu unterschätzen.

(Photo by WOJTEK RADWANSKI/AFP via Getty Images)

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