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·23. August 2024

Letzte Ausfahrt Allerpark oder auch: Peter und der Wolf

Artikelbild:Letzte Ausfahrt Allerpark oder auch: Peter und der Wolf

Wenn heute Abend wieder die Bundesliga beginnt und der VfL am Sonntag gegen die Bayern starten wird, dann werden wahrscheinlich viele VfL-Fans mit der üblichen „Jetzt-gehts-los“-Vorfreude wieder in die Stadien gehen, aber bestimmt nicht wenige auch mit sehr gemischten bis skeptischen Gefühlen. Wo soll sie auch herkommen, die Euphorie, von der wir uns so gerne mal wieder anstecken lassen würden? Scheinbar scheint die um Wolfsburg seit geraumer Zeit einen großen Bogen zu machen, so wie hohe Umfragewerte um die Ampel. Die aktuellen Eindrücke von einem müden Sommerkick auf einem holperigen Amateur-Sportplatz in Koblenz sind auch nicht dazu geeignet, ein Fünkchen Zuversicht zu entfachen – genauso wenig, wie das Auftaktprogramm in die kommende Spielzeit.

Vor einem Jahr habe ich hier an dieser Stelle die Geschichte vom Irr-Elefanten erzählt. These: Macht der VfL Wolfsburg so weiter, schafft er sich aufgrund von Belanglosigkeit sogar bei den eigenen Anhängern mehr oder weniger selbst ab. Er wird irrelevant. Blutleere Auftritte der Mannschaft, uninspirierter Taktik-Fußball, irgendwo im Niemandsland der Bundesliga, kaum eine positive Außenwirkung (die wie immer starken VfL-Frauen und die vielen tollen Projekte abseits des Platzes, z.B. für Kinder in der Region, nehme ich jetzt mal aus), ein damaliger Trainer, der nie das Gefühl vermittelte, in Wolfsburg oder bei den Fans ankommen zu wollen, eine sportliche Führung, die meistens im Hintergrund werkelte – ohne große Akzente zu setzen. Ein Verein, der bei gleichbleibender Entwicklung in naher Zukunft niemanden hinterm Ofen vor locken würde. So meine Befürchtung.


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Wie Schalke, nur ohne Fans

Ich muss zugeben, wie sehr ich mich geirrt habe. Weil ich dachte, der Absturz in die Bedeutungslosigkeit wäre für den VfL das Schlimmste, was kommen könnte. Niemals hätte ich gedacht, dass ein befürchteter Bauchklatscher ins Meer der Gleichgültigkeit unser geringstes Problem sein würde. Wir haben uns – so ehrlich müssen wir leider sein – in dem einen Jahr komplett selbst zerlegt. Auf allen Ebenen. Sportlich sind wir dem Tod gerade mal eben wieder von der Schippe gesprungen. Die Vorkommnisse und der Ablauf der Trennung von Marcel Schäfer rissen einem sportlich labilen Club die Eingeweide raus. Da war der vorherige Abgang von Niko Kovac bereits schon so vergessen wie der letzte Sieger beim „Sommerhaus der Stars“. Der Schockstarre folgte die gnadenlose Selbstzerfleischung. Ultras gegen Geschäftsführung, Normalos gegen Ultras, Fans gegen Spieler, unnötige 50+1-Diskussionen, ein Aufsichtsratsvorsitzender, der nicht gehen wollte, dann aber doch gehen musste usw. – ich glaube, ich muss das nicht noch alles erneut aufdröseln, was geschrieben, gezeigt, gesagt wurde. Was ich beobachten konnte war ein Ringen um die Seele des VfL. Nicht mehr und nicht weniger. Um das, was wir sind und was wir vielleicht sein sollten. Das Ganze war in der dargebotenen Form aber nicht nur schädlich für den VfL Wolfsburg und hat zahlreiche Wunden geschlagen. Mir fällt dazu insgesamt nur ein Wort ein: Unwürdig! Fast alles auf und abseits des Platzes rund um den VfL war in diesem Zeitraum nahezu komplett unwürdig für den Bundesliga-Standort Wolfsburg und im Verhalten der Institution gegenüber, über die man immer so gern sagt, dass sie größer sei als alle(s): der Verein. Die passendste Zusammenfassung las ich dazu im Netz: „Jetzt sind wir wie Schalke – nur mit weniger Fans und dass sich für uns keiner interessiert.“

Mount Everest der Ketzer

Kurz gesagt: das Ganze hat Spuren hinterlassen. Nachhaltig. Nur wenige Wochen vor diesem Achttausender-Gipfel der Fassungslosigkeit hatte ich noch in einer Veranstaltungshalle in Wolfenbüttel gesessen und versuchte gegen 1.000 alkoholhaltige BTSV-ler und den verbalen Anti-Wolfsburg-Ergüssen von Mario Basler wie üblich meinen VfL bis aufs Blut zu verteidigen. Nur kurze Zeit später stand ich bei den oben genannten Entwicklungen vor der entlarvenden Frage: Wofür machst du das eigentlich? Auch von angeblichen VfL-Fans persönlich in dieser Phase angefeindet zu werden, hat diese Selbstreflexion noch mal verstärkt. Doch Wunden haben einen großen Vorteil: Sie können heilen. Nach Streit kann man sich versöhnen. Aus Niederlagen kann man lernen. Aus Krisen gestärkt hervorgehen. Einen Weg einschlagen, der Besserung verspricht. Die Baustellen angehen, die vor einem liegen. Und davon haben wir einige: Sportlich und kadertechnisch gibt es noch keinen Hinweis, dass wir uns in dieser Saison verbessern. Ein Spagat zwischen Hoffnung und Skepsis. Ketzerisch könnte man auch von einer Erwartungslosigkeit sprechen, die sich im besten Fall in eine positive Überraschung entwickelt. Das Potenzial dafür haben wir. Haben wir aber auch immer schon gehabt. Auch vergangene Saison. Und davor.

Die viel größere Baustelle sehe ich aber tatsächlich sogar abseits des Platzes. Es wird eine Herkules-Aufgabe, dass wir uns alle wieder auch als VfL-Fans als Einheit präsentieren. Im Moment habe ich den Eindruck, dass viele entweder mit sich selbst zu tun haben oder nur auf sich schauen. Wer es noch nicht mitbekommen hat, es herrscht aktuell gerade in der aktiven Fanszene eine massive Dynamik und damit verbundene Umwälzungen. Vorwürfe über rechte Tendenzen in der Kurve, die in der jüngeren Vergangenheit geäußert wurden, sind weitere Misstöne im Konzert der Selbstreinigung. Das dies alles nicht zuträglich für unser Stimmungszentrum im Stadion sein kann, ist wahrscheinlich selbstredend. Große Hoffnung macht mir aber der starke Auswärtsauftritt auf den Rängen in Koblenz. Es wäre überragend, wenn es dieser gemeinsame Geist in die Saison schafft.

Pink und ocker

Trotzdem beschäftigen wir uns aus meiner Sicht noch zu oft mit Nichtigkeiten. Was meine ich damit? Als Beispiel möchte ich eine Diskussion nennen, der ich aktuell beiwohnen durfte: VfL-Fans, die sich öffentlich Richtung Verein über ockerfarbene Pullover und pinke Schals im Fanshop, schlecht sitzende Reißverschlüsse und zu wenig grün-weiß in der Kurve beschwerten. Schlussfolgerungen: deshalb sei das Stadion leer und die Identifikation mit dem Verein nicht vorhanden. Ich sage es offen: für mich ist das eine Alibi-Diskussion und wir sollten uns auf Wichtigeres besinnen. Es ist nicht entscheidend, was wir auf der Brust tragen, sondern in der Brust. Natürlich wäre ein einheitliches Erscheinungsbild wünschenswert, aber eine Haltung oder (Nicht-)Liebe gegenüber dem Club abzuleiten ist – mit Verlaub – Blödsinn. Beispiel: diejenigen, die sich im Zentrum der Nordkurve mit am stärksten mit dem Verein identifizieren, tragen in der Regel schwarz. Wenn du fünf Mal hintereinander gewinnst, begeisternd und aufopferungsvoll spielst, dann ist das Stadion voll – egal ob da einer neben dir einen eierschalenfarbenen Bikini trägt oder Pumps von Birkenstock. Wir müssen uns für diese Saison wieder auf Wesentlicheres konzentrieren als das. Und dafür brauchen wir Orientierung.

Lord Varys und Naldo

Am ehesten erhält man diese von handelnden Personen. Hier haben wir gleich zwei neue und entscheidende (kurios, dass der neue Trainer bei den ganzen Neuerungen schon wie „alteingesessen“ wirkt, obwohl er selbst erst wenige Monate da ist). Einer der „Neuen“ ist Peter Christiansen. Wer den GF Sport am Mittwoch bei der OFC-Versammlung erlebt hat, konnte einen intensiven Eindruck gewinnen, was auf den VfL zukommt in den kommenden Monaten. Der Mann hat Wucht. Vergleichbar mit einem Vollspann-Schuss von Naldo. Sogar die Sprachbarriere spielt dabei keine Rolle, wenn er ausführt, wie er sich den VfL vorstellt. Wie Peter dem Wolf Beine machen will. Er ist kein Diplomat wie Schäfer. Er ist direkt wie Schmadtke, ohne dabei zu wirken, dass ihm das Gegenüber entweder egal oder scheiß-egal ist. Er ist kein alleinherrschender Manager und Ex-Weltklassespieler wie Magath oder Allofs. PC wirkt eher wie eine Lokomotive in der optischen Gestalt von Lord Varys aus Game of Thrones, der bereit ist, alle mitzuziehen. Aber der auch erwartet, dass alle mitziehen. Und er hat einen ganz entscheidenden Satz gesagt, den ich auch bestimmt ohne den Codex zu brechen „Was auf der OFC-Versammlung gesagt wird, bleibt auf der OFC-Versammlung“ wiederholen kann: “Der VfL Wolfsburg ist für mich mehr als ein Fußballverein”, sagte er. “Der VfL Wolfsburg ist die Stadt, er ist die Menschen, die Fans, die Region, Sponsoren, Volkswagen, die VfL-Mitarbeiter.“ Findet Peter Christiansen die Zeit, diesen Worten auch Taten folgen zu lassen, kann die Mission „Heal the Wob-World“ beginnen.

Unterstützung bedarf es dabei natürlich auch von Chef-Seite. Da haben wir auch einen Neuen als Vorsitzenden im Aufsichtsrat: Sebastian Rudolph. Er ist der personifizierte Brückenschlag und der Beweis für ein näheres Heranrücken von Volkswagen an den VfL. Soweit, so gut und begrüßenswert. Die Nähe zu Konzernchef Blume ist selbstredend und zudem weiß Rudolph wie und wann man kommuniziert. Als Leiter der VW-Kommunikation sollte er das auch. Und offenbar ist die Einschätzung darüber schon jetzt anders als bei seinem Vorgänger. Mehr Sichtbarkeit, mehr Nähe, mehr Reden. Wenn sich das jetzt über Gespräche mit mitgereisten Fans im Trainingslager nun im übertragenen Sinne auch auf Nordkurven- und Fansaal ausweitet, wäre viel gewonnen.

Denn jetzt ist die Zeit des gegenseitigen Zuhörens. Es ist die Zeit für Aufbruch. Es ist die Zeit für eine Saison der Versöhnung. Es ist Zeit, konstruktiv die Zukunft des VfL zu gestalten. Vielleicht war die Chance nie größer. Vielleicht ist es aber auch die letzte Ausfahrt Allerpark, die wir mit unserem Verein kriegen müssen. Die Zeit ist jetzt, in dieser Saison. Vor allem müssen wir aber netter und verständnisvoller untereinander sein. Mehr wir, weniger Reißverschluss-, Biersorten- oder Leibchenfarben-Diskussion. Aber das hab ich mir auch schon vor Jahren gewünscht. Das mit dem Wir. Aber um es mit den Worten von Peter Christiansen zu sagen, die er seinen Spielern nach eigenen Angaben schon mal gern mit auf den Weg gegeben hat: „Wenn du nicht bereit bist, alles dafür zu geben, dann hör auf meine Zeit zu verschwenden.“

In diesem Sinn: Bleibt geschmeidig!

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