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·11. Oktober 2025

20.183 Schritte für ein Spiel – Was macht Zeugwart Frank Gräfen an einem Spieltag?

Artikelbild:20.183 Schritte für ein Spiel – Was macht Zeugwart Frank Gräfen an einem Spieltag?

20.183 Schritte zeigt die Uhr am Handgelenk an. Beziehungsweise 16,47 Kilometer – und das sind nur die vom Spieltag; jene vom Vortag können getrost hinzuaddiert werden. Es ist 21:12 Uhr im SIGNAL IDUNA PARK. Vor knapp zwei Stunden hat Borussia Dortmund den ersten Dreier der Saison eingefahren, 3:0 gegen Union Berlin. Inzwischen haben auch die letzten schwarzgelben Fans das Stadion verlassen. In der Kabine der Heimmannschaft erinnern nur noch vereinzelte isotonische Getränke, drei übrig gebliebene Bananen, zwei Stückchen Kuchen, eine geplünderte Obstschale und drei Wäschekörbe – einer mit Handtüchern, einer mit Socken und Stutzen und einer mit Badelatschen – an das vorangegangene Bundesliga-Spiel.

Frank Gräfen hat zwar noch keinen Feierabend, dafür türmen sich vor der Kabine noch zu viele Körbe und Kisten – aber zumindest ist das, was im engeren Sinn „Nachlauf des Spiels“ genannt wird, jetzt durch. Anders als nach so manchem Champions-League-Spiel, nach dem es auch mal drei Uhr in der Früh werden kann, je nachdem wie es bei der Dopingprobe so läuft, könnte Fränkie diesmal vor Mitternacht zu Hause sein. 20.183 Schritte sind es also am Ende dieses ersten Heimspieltages, der für den Zeugwart um kurz vor acht begonnen hat. Herzlich willkommen in der Saison 2025/26, seiner 22. als Zeugwart der Profis.


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15 Trainer hatte Fränkie in dieser Zeit; von Matthias Sammer bis zu Niko Kovac. Zurechtgekommen ist er mit jedem einzelnen, auch wenn unterschiedliche Typen darunter waren. In besonderer Weise prägend waren die sieben Jahre mit Jürgen Klopp. „Die Leute haben immer gesagt: Wenn ihr altersmäßig weiter auseinander wärt, könntet ihr auch Vater und Sohn sein“, erinnert sich Fränkie. Er tut das ohne einen Anflug von Selbstgefälligkeit oder gar Pathos. Er sagt einfach, wie es ist. Das tut er immer. In einer Blase, in der mitunter viel Luft ist, ist Frank Gräfen bemerkenswert bodenständig und unaufgeregt.

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7:50 Uhr am selben Tag. Die Arbeit beginnt. „Es dauert halt alles seine Zeit.“ Wie vor jedem Heimspiel begutachtet der Zeugwart Schiedsrichter-, Gäste- und Heimkabine sowie den Aktivierungsraum. Wissen ist schließlich besser als Glauben. Fränkie wird ungern überrascht. Dafür nimmt er auch in Kauf, eine halbe Stunde eher anzufangen. Sollte er dadurch mal früher fertig sein als nötig, trinkt er lieber noch in Ruhe einen Kaffee. Die Erfahrung gibt ihm auch diesmal Recht. „Heute Morgen war eine Toilette kaputt. Da lief das Wasser durch. Also habe ich den Handwerker angerufen, der das dann repariert hat.“ Fränkie kümmert sich im großen Fußballgeschäft mit Vorliebe um die vermeintlichen Kleinigkeiten.

An einem normalen Trainingstag kommt er so schnell auf eine Laufleistung von sieben Kilometern. Am Ende eines Spieltages sind es in der Regel 16 bis 17. Eine durchschnittliche Wochenarbeitszeit ist nicht zu benennen. Nur so viel: „Es gibt gute und schlechte Zeiten. An manchen Tagen sind es zwei, drei, vier Stunden mehr – aber das wollen wir jetzt mal nicht aufrechnen.“ Wieder so ein Satz, der für sich und für ihn spricht. Ein Schuss Leidenschaft gehört eben dazu. „Du darfst nicht nur den Job sehen. Es muss dir schon Spaß machen.“ Und Fränkie hat Spaß.

Fast 9 Kilometer Strecke schon am Vortag

Bereits am Vortag hat er in seinem Büro in Brackel sicherheitshalber in den offiziellen „Report Spielkleidungsabgleich“ der DFL geschaut und die fehlenden Klamotten aus seiner Garage – in der Alu-Cases, Sporttaschen, Ballsäcke, Getränkekisten und -träger sowie Rollkoffer fein säuberlich sortiert und beschriftet auf ihre Bestimmung warten – ins Stadion gebracht. Am Ende des sogenannten Matchday -1 hat die Uhr am Handgelenk weitere 10.369 Schritte bzw. 8,46 Kilometer Laufstrecke angezeigt. Gleichwohl war der Transport diesmal überschaubar. „Bei einem Heimspiel habe ich alles vor Ort, außer Trikots und Trainingszeug“, erklärt der Zeugwart und ergänzt: „Die Schuhe nehme ich einen Tag vorher mit rüber, sofern kein Anschwitzen mehr in Brackel ist, ansonsten am Mittag des Spieltags.“ Im Winter sind es mehr Alu-Cases, Sporttaschen, Säcke, Kisten und Koffer – hinzu kommen lange Hosen, Regenjacken, Stadionjacken, Stadiondecken bis hin zu dicken Winterschuhen. „Im Winter“, sagt Fränkie, „fährst du mehr hin und her, das ist ganz klar.“ Jetzt aber ist Spätsommer …

… und inzwischen 14:30 Uhr. 70 Bälle vom Typ Derbystar sind aufgepumpt, die Getränke angerührt. Die Massagebank ist mit einem frischen Spanntuch bezogen, der Anschwitzraum mit Gymnastikmatten, Rollen und Gewichten bestückt. Durch die Zugabe des einen oder anderen Kübels Crushed Ice hat das Kältebecken inzwischen die richtige Temperatur, zugleich hat ein Paar rosafarbene Fußballschuhe seinen Weg in den gelben Kasten mit der Aufschrift „Form Base by k-tech“, einem mobilen Heizgerät, gefunden. Das Mitgliedermagazin BORUSSIA liegt in sechsfacher Ausführung auf dem Tisch in der Mitte, daneben Tape in Gelb, Schwarz und Weiß, Power-Riegel, Wasser und Crushed Ice. Trikots, Hosen, Stutzen sind rausgelegt; akribisch und akkurat zupft der Zeugwart sie zurecht. Das Auge spielt schließlich mit. Das erste Heimtrikot von Neuzugang Aaron Anselmino hängt Fränkie besonders gewissenhaft auf – ein gutes Omen für eine gute Leistung, wie sich später herausstellen wird.

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Sonderwünsche der Spieler hat Gräfen heute nicht zu beachten. Sie sind generell selten. „Einmal hatte ich etwas mit Marco Reus“, sagt Fränkie und beginnt zu erzählen: „Marco wollte immer eine bestimmte Art von Socken haben: immer zwei Paar zur Auswahl, immer weiß – und das Bündchen durfte nicht zu locker sein und nicht zu stramm.“ Weitere Besonderheiten kann der Zeugwart nicht berichten, der Rest sind schlicht Vorlieben. Fränkie weiß genau, wer weiße Socken trägt und wer gelbe – und dass kein Spieler Schwarz trägt. Das ist ein Dogma. „Schwarze Socken würden sie nie anziehen. Schwarz bedeutet für jeden Spieler, den ich kenne: Trauer. Wenn wir also ein schwarzes Away-Trikot oder schwarze Stutzen haben, dann ziehen die Spieler trotzdem keine schwarzen Socken an. Das geht nicht. Die sagen mir immer: Fränkie, wenn ich da runtergucke und sehe Schwarz – das geht nicht. Die Jungs ziehen im Zweifel also lieber weiße Socken an und tapen die dann mit Schwarz …“ Fußballer sind nicht selten abergläubisch.

Fränkie hingegen ist vor allem eines: entspannt. Der offizielle „Run-Down-Plan“ der DFL, der im Schaukasten vor Kopf in der Kabine aushängt und jeden Schritt minutiös geplant vorgibt, sieht das Einlaufen erst und obligatorisch für 17 Uhr 28 und 30 Sekunden vor. Schon jetzt zeigt sein Zähler 12.762 Schritte bzw. 10,49 zurückgelegte Kilometer an – „und das Spiel hat noch nicht mal angefangen“. Man kann also mit Fug und Recht behaupten, dass der Zeugwart eine überdurchschnittliche Laufleistung eines Profis während des Spiels schon vor dem Spiel absolviert hat. „Wenn man das jetzt noch in gleicher Weise an meinem Körper sehen würde …“ Egal! Die Heimkabine ist hergerichtet, es ist angerichtet.

Direkt gegenüber liegt Fränkies Reich, wovon das entsprechende Namensschild samt Porträtbild zeugt. Der zweckmäßig ausgestattete Raum würde auch als Paradies für Gemischtwarenhändler durchgehen. Hier gibt es alles, was der Profi braucht. Neben weißen, grauen, blauen und roten Körben mit Trikots, Leibchen, Jacken, Kappen und Hütchen, Handtüchern und BVB-Schals stehen und liegen in den Lastenregalen, die andere in Keller und Garage im Einsatz haben, auch ein paar Regenschirme und ein Paar gelbe Krücken, Hand- sowie Sohlenwärmer neben Power-Riegeln und Power-Shots, Tapes und Kaugummis. Im Kühlschrank stehen Wasser und Cola, auch Zero, Apfelschorle und Sprite, alkoholfreies Bier. Hier gibt es Sonnencreme und Anti-Brumm, JBL-Boxen (die großen) für den besten Kabinen-Vibe – und zwei immer offene Ohren.

„Mit Spielern wie Roman Weidenfeller habe ich nicht nur übers Spiel gesprochen, sondern auch privat. Jeder hat mal irgendetwas“, sagt Fränkie. Auch Tomas Rosicky ge- hört zu dieser Riege. Und Erling Haaland. So gibt es aus nahezu jedem Jahrgang einen. „Die Jungs wissen aber auch ganz genau und haben das Vertrauen, dass ich niemals irgendetwas weiterquatschen würde. Andersherum aber auch nicht.“ Das war mit Jürgen Klopp als Trainer nicht anders. „Wir haben uns auch nicht gegenseitig ausgefragt. Er hat mich nie gefragt: Sag mal, was war denn da gestern Abend los, haben die wieder auf den Tischen getanzt. Das hätte er niemals gemacht.“ Weil Klopp Gräfen damit in die Bredouille gebracht hätte.

Fränkie ist vertrauenswürdig. Verschwiegen. Bodenständig und bescheiden. Ein gelernter Bergmann eben.

„Ich hab auf Zeche gelernt damals; Bergmechaniker, unter Tage. Ich habe in Hardenberg/Minister Stein meine drei Jahre gemacht. Danach hat man gesagt: Wer besteht, geht sofort nach Bergkamen, denn hier in Dortmund war nichts mehr. Also bin ich sofort nach Bergkamen verlegt worden – Monopol, Grillo 4. Grillo 4 wurde dann zugemacht, und danach wurde Monopol zugemacht. Dann wurde ich verlegt nach Haus Aden und dann nach Heinrich-Robert. Ja, Heinrich-Robert war zum Schluss. Und dann hat man mir nahegelegt, dass ich von mir aus kündige und mir was anderes suche – oder dass ich eine Arbeit annehme, die bis zu 100 Kilometer weg sein konnte. Die hätten mir also eine Arbeit gegeben – die Bergleute sind damals alle verteilt worden, auf Baumärkte und so etwas alles – sie konnten mir aber 100 Kilometer hin und 100 zurück zumuten, also sprich: 200 Kilometer am Tag. So war das damals.“

Vom Bergbau zum BVB

Kurz nachdem Fränkie so echt und pur und unverblümt vom Bergbau erzählt hat, stimmen sie oben auf den Tribünen „Dortmund unsere Stadt“ an. Ach was: sie intonieren das Stück und schmettern dabei die Zeilen „Einst hat man hier das schwarze Gold zu Tag gebracht / Jetzt wird die Kohle anderswo gemacht / Glutroter Stahl brannte hell wohl in der Nacht / An diesem Ort ist Phoenix dann erwacht!“ besonders inbrünstig. Wie immer. Nackenhaare kämpfen um einen Stehplatz. Und Gewissheit breitet sich aus: Der Kerl da unten in den Katakomben des Stadions passt wie Arsch auf Eimer zu Dortmund – und zum BVB. Entsprechend fährt Fränkie dort unten, wo an einigen wenigen Stellen tatsächlich noch 1974 ist, fort:

„Ich war immer schon Ordner beim BVB, schon mit 20. Ich hab damals im Süden angefangen, war dann auf der Westtribüne, hatte als Gruppenleiter 30 Ordner. Dann wurde der Oberrang aufgebaut, da hatte ich zwischenzeitlich 52 Ordner, bis das später aufgeteilt worden ist. Darüber war ich schon bei Festlichkeiten dabei, auch bei runden Geburtstagen von Spielern, zum Beispiel von Matthias Sammer. Aber auch bei den Handball-Damen war ich im Einsatz, damals im Challenge Cup, da hatte mich Heinz Keppmann gefragt. Dadurch bin ich reingerutscht. Als es dann auf Zeche eng wurde, hat mich der damalige Sportdirektor Michael Zorc gefragt, ob ich mir vorstellen könnte, beim BVB anzufangen.“

Konnte er. Wenn am Abgang zum Spielertunnel das Motto „Unser ganzes Leben, unser ganzer Stolz“ steht, dann ist das für Frank Gräfen nicht nur ein Spruch. Würde er Tagebuch schreiben, wäre es ein Sammelalbum an besonderen Momenten mit und für Borussia Dortmund. „Du gehst durch gute Zeiten und durch schlechte Zeiten; schlechte habe ich auch mitgemacht. Da kannst du den Kopf auch nicht im Sand hängen lassen. Irgendwann geht es immer wieder bergauf“, sagt Frank Gräfen – und führt aus: „Das Highlight war, als wir 2012 als Meister und Pokalsieger um den Borsigplatz gefahren sind. Das war für uns alle neu – und einzigartig. Da sind wir acht Stunden durch die Stadt gefahren, haben all die Menschen gesehen, hunderttausende, das war Wahnsinn – nicht nur für mich, sondern für jeden Einzelnen, der da oben auf dem Wagen gestanden hat.“ Berlin sei seitdem immer wieder ein Erlebnis. Union Berlin indes heißt das anstehende Ereignis.

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Inzwischen ist es 16:03 Uhr. Fränkie lugt schon mal durch die geschlossene Tür, die zur Heimkabine führt, raus in die sogenannte Mixed Zone – noch ist kein Spieler zu sehen. Der Mannschaftsbus hat zwar bereits das Rolltor im Nordosten des Stadions passiert, offenbar aber noch nicht unter der Osttribüne geparkt.

16:05 Uhr: zweiter Blick – die Spannung steigt, das Adrenalin auch, selbst bei einem so erfahrenen Mitarbeiter, noch immer, bei jedem Spiel. Anders würde es auch keinen Sinn mehr ergeben.

16:09 Uhr: Der Bus ist da, die Tür zum Kabinentrakt geht auf. Fortan kommt keiner rein, der nicht an Fränkie vorbeigeht. Alle sind sie inzwischen da. Geschäftsführer Carsten Cramer, Geschäftsführer Lars Ricken, Sportdirektor Sebastian Kehl – Hände klatschen zur Begrüßung gegeneinander, wieder, immer wieder, so klingt der Sound der Überzeugung; während in der Gästekabine auf der anderen Seite Berliner Bässe wummern.

Besonders laut wird es um kurz vor halb sechs. Die Mannschaften laufen ein. Begleitet von einer atemberaubenden Choreografie der Fans im Süden. „Grau is’ alle Theorie. Entscheidend is’ aufm Platz.“ Den betritt jetzt auch der Zeugwart, hinter den elf Startelfspielern und noch hinter Maskottchen EMMA läuft Fränkie über den nahezu heiligen Rasen, am Ende der Einlauf-Zeremonie wird er elf Jacken einsammeln.

Um 17:29 Uhr und damit streng nach Protokoll ist Frank Gräfen im Spielertunnel verschwunden. Der Zeugwart bringt das letzte Zeug in die Kabine, zwei Arme voll mit Trainingsjacken. Danach kommt er zurück in den Innenraum des SIGNAL IDUNA PARK und nimmt neben der Trainerbank Platz. Wie immer. Seit 22 Jahren. Ein einziges Spiel hat er in dieser Zeit verpasst – coronabedingt auswärts bei Eintracht Frankfurt.

Jetzt können für 90 Minuten mal andere laufen.

Fränkies Schrittzähler wird erst nach dem Abpfiff wieder so richtig drehen. 20.183 Schritte sind es am Ende dieses Spieltages. 16,47 Kilometer. Für ein einziges Bundesliga-Spiel. Wie wichtig er im und für das Gesamtgefüge der Profi-Mannschaft sei? Frank Gräfen antwortet genauso, wie es zu erwarten war: „Als wichtig sehe ich mich nicht an. Ich habe ein gutes Verhältnis zu den Jungs, zum Trainer und zur Geschäftsführung. Wir kommen gut zurecht. Aber wenn ich nicht da wäre, würde Borussia auch vor den Ball treten.“Autor: Nils Hotze Fotos: Hendrik Deckers

Der Text stammt aus dem Mitgliedermagazin BORUSSIA. BVB-Mitglieder erhalten die BORUSSIA in jedem Monat kostenlos. Hier geht es zum Mitgliedsantrag.

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