feverpitch.de
·5. Juni 2025
Deutsche Sportmisere: Jamal darf nicht Fußball spielen

In partnership with
Yahoo sportsfeverpitch.de
·5. Juni 2025
Ein Anruf: „Hallo, ich bin Stadtteilmutter in einer Notunterkunft und habe hier einen 10-jährigen Jungen, der begeistert Fußball spielt. Jamal möchte so gern in einen Verein! Man sagte mir, Ihrer wäre der geeignete.“ Derlei Anfragen bekommen wir jede Woche – und nicht nur wir. Besagter Junge ist aus einem Kriegsgebiet nach Deutschland geflohen und möchte hier seiner Leidenschaft nachgehen. Keine Ahnung, ob er ein potenzieller Spitzenspieler ist, aber darum geht es nicht. Vielleicht ist er ein potenzieller Ingenieur, Busfahrer, Arzt oder Verwaltungsangestellter.
Der FC Internationale ist seit 2007 sogenannter Stützpunkt des Programms „Integration durch Sport“. Wir haben Mitglieder unterschiedlichster Nationalitäten, mehr als 70. Wir leisten unseren Beitrag für Teilhabe und Eingliederung. Doch bei uns entsteht oft das Gefühl, es sei nicht genug. Wir weisen pro Jahr mehr als 500 Kinder und Jugendliche ab, denn es fehlen Sportanlagen. In unserem Umfeld wurden mehrere Notunterkünfte eingerichtet, neue Wohnungen für rund 6.000 Menschen gebaut, aber kein Millimeter zusätzliche Sportanlage.
Das Platzproblem teilen wir mit anderen in der Jugendarbeit ambitionierten Vereinen. Die Erzählungen von Hansa 07 in Kreuzberg ähneln unseren – auch was die Qualität des Sportplatzes angeht, worauf ich nicht näher eingehen will. Selbst am Stadtrand gibt es von Berlin-Staaken im Norden bis Lichtenrade und Marienfelde im Süden deutlich mehr Anfragen als Plätze in den Teams. Die Jugendleitungen sind zunehmend verzweifelt. Sofern sie sich nicht längst schulterzuckend in ihr Schicksal gefügt haben oder sich ohnehin niemand mehr den Posten findet.
In früheren Kolumnen habe ich bereits auf die negativen volkswirtschaftlichen Folgen der Misere hingewiesen, nicht nur auf die steigenden Gesundheitskosten durch Bewegungsmangel. Sport im Verein fördert auch die Sozialkompetenz, was sich beispielsweise auf die Ausbildungsfähigkeit von jungen Menschen positiv auswirkt. Jedes Unternehmen, das Auszubildende und junge Fachkräfte sucht, sollte den Sportverein vor der Tür mit Sponsoring oder Spenden unterstützen – nicht nur aus karitativen Zwecken, sondern auch aus eigenem Interesse.
Doch der Stellenwert des Amateursports in Deutschland sinkt rapide. Warum ist das so? Die meisten Vereinsvorstände fühlen sich von der Politik, aber auch von ihren Verbänden nicht gut vertreten. Statt etwas zu ändern, z. B. ein entschiedeneres Vorgehen zu fordern, tragen viele ihr Schicksal auf den ohnehin zu schwachen Schultern oder ziehen sich gar frustriert zurück. Kein Wunder, denn die Verantwortung wächst, die Probleme werden mehr, als da sind:
Was ist eigentlich aus diesem Land geworden, wenn wir Jugendtrainer verunglimpfen, die freiwillige Arbeit von Vereinsvorständen nicht mehr schätzen, sogar Rettungskräfte behindern? Es ist höchste Zeit, aufzuwachen, den Wert des Amateursports für unser Land endlich wieder zu erkennen und zu schätzen. Gerade der Fußball übt auf unsere Kinder und Jugendliche trotz der „Balla-Balla-League“ und Influencer-E-Sports immer noch eine große Faszination aus, vor allem der auf den Plätzen der Amateurvereine.
Auch wenn es manchmal übermotiviert zugeht – was immer noch besser ist als Dauerphlegma oder Ritalin – Fußball ist für nahezu alle Milieus und Schichten der Sport des Verlangens, bei dem alle zusammenkommen. Manchmal fällt mir ein früher oft gebrauchte Aktivisten-Spruch ein, den ich einst umtextete:
„Erst wenn der letzte Trainer vertrieben, der letzte Vorstand frustriert, die letzte Sportanlage verrottet ist, werdet ihr feststellen, dass man mit Prestigebauten und Autobahnen keine Solidargemeinschaft entwickeln kann.“
Es geht nicht um Verklärung, sondern um eine echte Aufwertung. Viele Verbandsfunktionäre nehmen die Missstände routiniert hin, kämpfen längst nicht mehr leidenschaftlich um mehr Gehör und bessere Bedingungen. Pflichtschuldig äußert man hin und wieder, es müsse eigentlich mehr für den Sport getan werden. Doch dann gibt man sich mit der Einsetzung einer Staatsministerin für Sport und Ehrenamt zufrieden, um diese vor allem auf die Bewerbung für die Olympischen Spiele hinzuweisen. Angeblich sollen diese auch den Breitensport fördern.
Preisfrage: Wer kann eine Breitensportanlage nennen, die aufgrund der letzten Fußball-EM in Deutschland zusätzlich entstanden ist?
Arg wird es, wenn man aufgrund von deutlichen Beschwerden als Nörgler oder gar als Spinner abgestempelt wird. Die Mängel seien doch nichts Neues, es habe schon immer Probleme gegeben. Als Lautsprecher käme man nicht weiter.
Gegenfrage: Wie weit sind wir mit dem aktuellen Closed-Job-System gekommen, das von Intransparenz und mangelnder Vielfalt geprägt ist. In dem die Gremien der Sportverbände unsere Gesellschaft nicht realistisch abbilden, die Interessensvertretung benachteiligter Gruppen kaum wahrnehmen? Wenn Selfies aus Profistadien wichtiger erscheinen als die Diskussionen um die Sorgen an der Basis, wenn Posten nach Proporz und nicht nach Kompetenz oder Ambition vergeben werden, dann ist das ein Problem. Auch wenn der Sport letzteren Umstand nicht exklusiv hat.
Zurück zum Jungen, der Fußball im Verein spielen möchte: Sein Traum wird wahrscheinlich nicht erfüllt werden. Er wird nicht in ein Team eines funktionierenden Vereins „integriert“. Er wird den Trainer, dem das bestimmt leidtut, nicht kennenlernen. So wenig wie seine potenziellen Mitspieler, die ihm vielleicht die Möglichkeit geboten hätten, zumindest temporär in der Mehrheitsgesellschaft mitzuwirken, als Freund, als Torschütze, als ein geschätztes Mitglied der Mannschaft.
Jamal wird vermutlich weiter in seiner temporären Unterkunft in einem ehemaligen Schul- oder Dienstgebäude von Toren und Siegen gegen andere Teams träumen, aber anders als sein berühmter Namensvetter diese nicht erleben. Denn die Vereine sind überfüllt. Die dringend erforderlichen Erfolgserlebnisse muss er woanders suchen, sofern er die Gelegenheit dazu erhält. So wie viele andere Kinder auch, egal ob zugewandert oder hier geboren.
Dabei gäbe es Möglichkeiten, die Bedingungen zu verändern und mehr Kinder in Vereine zu bringen. Aber wer glaubt, wir Ehrenamtlichen würde noch mehr leisten, um die Versäumnisse von Politik und Verwaltung ausmerzen – während andere gleichzeitig das Geld für den Zweitwagen oder Dritturlaub verdienen – hat keine Vorstellung von der Stimmung an der Basis der Vereine.
Noch immer will ich will mich nicht mit den Verhältnissen abfinden. Aber ich merke auch, wie die Kräfte schwinden, die Müdigkeit zunimmt – nicht nur bei mir. Denn fast täglich kommen neue Erschwernisse dazu, etwa durch übereifrige Verwaltungs- oder TÜV-Angestellte, die den Vereinen und ihren Engagierten das Leben schwermachen, diese sogar in ihrem Ehrenamt behindern.
So wie der Junge, haben auch wir zu wenig Erfolgserlebnisse. Eine Staatsministerin für Sport und Ehrenamt reicht dafür nicht aus. Es ist höchste Zeit, gemeinsam aktiv zu werden, die Bedingungen für unsere Vereine und die jungen Talente zu verbessern. Jeder Beitrag zählt – sei es durch Unterstützung, Ideen oder einfach nur durch das Teilen unserer Anliegen.
Wer helfen möchte, nimmt gern Kontakt zu mir oder dem Verein seines Vertrauens auf. Gemeinsam können wir dafür sorgen, dass mehr Kinder und Jugendliche echte Erfolgserlebnisse im Sport erleben und auf diese Weise unsere Gemeinschaft und der Zusammenhalt gestärkt werden.
Das Motto der erfolgreichen Hartplatzhelden-Amateurfußball-Konferenz lautete: „Wer den Amateurfußball stärkt, stärkt die Demokratie!“ Dem ist nichts hinzuzufügen. Außer vielleicht dieses Zitat von Ewald Lienen: „Wir brauchen unsere Sportvereine, um überhaupt diese soziale Arbeit zu machen. Wer soll denn sonst dafür sorgen, dass uns das Ganze nicht um die Ohren fliegt?“