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·10. Juli 2024
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Wer trifft auf Spanien? Am heutigen Abend duellieren sich England und die Niederlande um das verbliebene Finalticket. Die Partie der beiden Giganten ist dabei auch ein Aufeinandertreffen zweier gänzlich verschiedener Fußballkulturen. Die Vorschau zum Spiel.
Nur fünf Tore in fünf Spielen. Erst ein Sieg nach 90 Minuten. In keiner Begegnung wirklich überzeugt. All das trifft auf die bisherige Turnierleistung der Engländer zu und klingt nicht gerade nach dem Résumé einer europäischen Top-Nation. Und dennoch stehen die Three Lions im EM-Halbfinale. Schon wieder. Bei drei der vergangenen vier Großereignissen schaffte es die Auswahl von Trainer Gareth Southgate in die Runde der letzten Vier. Spielerische Glanzleistungen vollbrachte die englische Mannschaft dabei selten, doch die diesjährige Endrunde stellt den absoluten Höhepunkt der Southgate’schen Minimalismus-Masterclass dar.
Mit kumulierten 4,7 xG weist das Mutterland des Fußballs einen geringeren Wert auf als Mannschaften wie Kroatien oder Tschechien, die bereits nach drei Vorrundenspielen die Siegel streichen mussten. In einem mehr als zähen Viertelfinale gegen die Schweiz war England die noch biederere zweier äußerst biederer Mannschaften und machte den Halbfinal-Einzug letztlich im Elfmeterschießen klar. “Das sind keine normalen Fußballspiele. Das sind nationale Ereignisse”, stellte Southgate im Anschluss klar und entschuldigte sich hörbar ironisch dafür, attraktiven Fußball dem Ergebnis unterzuordnen.
Eine Abkehr von diesem Prinzip ist gegen die Niederlande selbstredend nicht zu erwarten. Die Drei-Löwen-Männer werden versuchen, defensiv kompakt zu stehen und offensiv durch gelegentliche Nadelstiche ihrer Weltklasse-Einzelkönner gefährlich zu werden. Gegen die Slowakei rettete ein Fallrückzieher von Jude Bellingham die Mannschaft in buchstäblich letzter Sekunde vor dem Aus, wohingegen es gegen die Schweiz ein lichter Moment von Arsenal-Superstar Bukayo Saka war, der den Vize-Europameister von 2021 noch in die Verlängerung brachte.
Die verlängerungserprobten Engländer hätten sicherlich auch kein Problem damit, im Zweifelsfall wieder über 90 Minuten hinausgehen zu müssen. Das auf der Insel historisch gefürchtete Elfmeterschießen scheint sich langsam aber sicher zu einer Paradedisziplin zu entwickeln. “Sie nähern sich einem perfekten Elfmeterschießen”, erklärte Geir Jordet, Sportpsychologe und Elfmeter-Experte, nach dem Erfolg über die Schweiz gegenüber der FAZ. Jordet berichtete auch von einer “Elfmeter-Taskforce”, die von Southgate einberufen wurde und seit acht Jahren daran arbeitet, England von chronischen Strafstoß-Strauchlern zu Strafstoß-Spezialisten zu machen. Offenbar mit Erfolg: Einschließlich der Nations League gewannen die Three Lions drei ihrer letzten vier Elfmeterschießen.
Der Gegner aus der Niederlande wird alles dafür tun, es gar nicht erst zu einem solchen Szenario kommen zu lassen. Als einziger aller Halbfinalisten benötigte die Elftal keine Verlängerung, um die Runde der letzten vier Mannschaften zu erreichen. Während die Schützlinge von Bondscoach Ronald Koeman in der Vorrunde noch strauchelten, folgte in der K.o.-Runde der leistungstechnische Turnaround. Gegen Rumänien gewann Oranje hochverdient mit 3:0 und lieferte dabei einen der offensivstärksten Auftritte der bisherigen Europameisterschaft. Ganze 23 Mal feuerten die Niederländer auf das rumänische Tor.
Im Viertelfinale gegen die Türkei präsentierte der Europameister von 1988 ein anderes, wenn auch ähnlich überzeugendes Gesicht. Nach einem 0:1-Halbzeitrückstand gegen euphorisiert aufspielende Türken zeigte die Elftal im zweiten Durchgang Charakter und drehte die Partie innerhalb von nur sechs Minuten. Der Kopfballtreffer von Innenverteidiger Stefan de Vrij und das von Cody Gakpo erzwungene Eigentor waren die Resultate von Einsatzbereitschaft und purem Siegeswellen. In der Schlussphase hielt Torwart-Talent Bart Verbruggen dann den niederländischen Sieg fest.
(Photo by ODD ANDERSEN/AFP via Getty Images)
Im Anschluss an die Begegnung machten Fans und Medien darüber hinaus einen weiteren Schlüsselfaktor für das Weiterkommen aus: Wout Weghorst. “Es ist ein Albtraum, gegen ihn zu spielen. Er ist körperlich stark, eine Nervensäge im Strafraum”, lobte Teamkollege Nathan Ake seinen Angreifer. Und tatsächlich: Weghorst kam in allen fünf Turnierspielen von der Bank und belebte das Oranje-Spiel stets mit seiner enormen Physis und der daraus resultierenden Strafraumpräsenz.
In der Niederlande wird seit Tagen darüber debattiert, ob der 1,97m-Mann gegen England anstelle von Memphis Depay in der Startelf stehen sollte. “Wout Weghorst vom ‘Finisher’ zum ‘Starter’ im Halbfinale gegen England? Koeman sollte darüber nachdenken”, titelte die niederländische Tageszeitung AD. Der Bondscoach ist sich dieser Diskussion bewusst, möchte sein Joker-Ass aber auch weiterhin im Ärmel behalten. “Für das Spiel nach der Halbzeitpause ist Weghorst natürlich ein viel besserer Stürmer als Depay,” betonte Koeman. Eine ähnliche Diskussion führe Deutschland bis zuletzt noch um seine Angreifer Kai Havertz und Niclas Füllkrug.
Die Partie zwischen England und der Niederlande wurde dabei schon vor dem Anpfiff um eine Kontroverse reicher. Die UEFA gab am Mittwoch bekannt, dass Felix Zwayer das in Dortmund stattfindende Duell pfeifen wird. Ausgerechnet jener Felix Zwayer, der vor zweieinhalb Jahren ins Fadenkreuz einer heftigen Kritik von Jude Bellingham rückte und seitdem kein Spiel mehr im Westfalenstadion geleitet hat.
Nachdem der Unparteiische im Rahmen des damaligen Bundesliga-Topspiels gegen den FC Bayern mehrmals zu den vermeintlichen Ungunsten von Borussia Dortmund entschied, wurde der englische Youngster im Postgame-Interview mehr als deutlich: “Du gibst einem Schiedsrichter das wichtigste Spiel in Deutschland, der zuvor schon Spiele manipuliert hat. Was erwartest du?“
Mit diesen Worten löste Bellingham eine Diskussion um Zwayer aus, der 2005 in den Skandal um Robert Hoyzer verstrickt war und vom DFB für insgesamt sechs Monate gesperrt wurde, nachdem er die aufgeflogenen Spielmanipulationen seines Kollegen nicht gemeldet hatte. Ex-Schiedsrichter Manuel Gräfe bezeichnete die Nominierung des 43-Jährigen als “exemplarisch für aktuell elende Strukturen und schwache Refs“. Die Ansetzung sei gegenüber allen involvierten Seiten “verantwortungslos”.
Zwayer selbst dürfte heute Abend alles dafür tun wollen, möglichst wenig im Mittelpunkt des Spielgeschehens zu stehen. Es ist dementsprechend auf ein Halbfinale zu hoffen, in dem die Schiedsrichterleistung einen geringen Einfluss auf den Ausgang der Partie nehmen wird. In diesem Fall steht uns ein Duell zweier Mannschaften bevor, die sich zwar auf Augenhöhe bewegen, aber dennoch einen gänzlich anderen fußballerischen Ansatz verfolgen.
Reicht der englische Minimalismus auch im sechsten Turnierspiel, oder ziehen die deutlich offensiver ausgerichteten Niederländer zum ersten Mal seit 2010 wieder in ein großes Finale ein? Die heutigen 90 Minuten werden uns die Antwort liefern. Auch wenn es aus englischer Sicht sicherlich 120 sein dürfen. Oder sogar noch mehr.
(Photo by Alex Livesey/Getty Images)