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·9. Oktober 2024
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Mit einer Höhe von 93 Meter wacht sie über New York, den Hafen von Manhattan, den grüngrauen Hudson River und auch über die andere Seite des Flusses, wo der Bundesstaat New Jersey beginnt: Die Freiheitsstatue ist das Wahrzeichen von New York schlechthin, eine ikonische Figur. Stoisch schaut sie in die Ferne, in der Hand eine Fackel - aber die brennt nicht wirklich, sondern schimmert nur golden.
Einige Dutzend Kilometer entfernt von der Statue, auf der linken Seite des Flusses, in New Jersey, brennt dagegen am 22. September eine echte Flamme, in imposanter Freiheitsstatuen-Größe: Drei Meter groß ist die Fackel, die vor dem Anpfiff im Stadion angezündet wird. Es ist nicht die einzige Referenz zur Freiheitsstatue während dieses Fußballspiels.
Im Logo der Gastgeberinnen prangt groß eine Krone, die der Statue of Liberty nachempfunden ist, und die Klubfarbe ist türkis, wie die Freiheitsstatue, die ihr ursprüngliches Kupferrot schon lange verloren hat. Typisch amerikanisch ist alles mit Symbolik aufgeladen - besser noch, mit Freiheits-Symbolik.
NJ/NY Gotham FC heißt der Verein, der hier, in Harrison, New Jersey, seine Heimspiele austrägt. Der Schrägstrich symbolisiert den Hudson River, der New York von der Peripherie und dem Bundesstaat New Jersey trennt. Gotham aber - ein Spitzname für die Metropole am Atlantik und eine Batman-Referenz -, will beides verbinden: New York und New Jersey, will einen Fuß auf beiden Seiten des Flusses haben.
An diesem Sonntagmittag sind wohl die meisten der 7680 Zuschauer über den Hudson aus New York gekommen, in die Red Bull Arena. Hier trägt auch der Männerverein New York Red Bulls seine Heimspiele aus, und es wirkt ein wenig so, als sei Gotham hier nur zur Untermiete, wie ein Student, der zu Semesterstart noch nichts anderes gefunden hat. Dabei ist es schon die vierte Saison, in der die "Goths" hier spielen. Aber statt Nachtblau und Türkis prangt auf den Schildern, die zum Stadion weisen, nur das Rot-Weiß-Gelb der Brause-Franchise.
Die Red Bull Arena: Hier spielt NJ/NY Gotham FC / Tim Nwachukwu/USSF/GettyImages
Gotham empfängt an diesem lauen Herbsttag die Liga-Neulinge Utah Royals, die gerade erst zur amerikanischen Frauenfußball-Liga NWSL dazugestoßen ist. Der erste von vielen Kontrasten an diesem Mittag: Utah ist neu - auch wenn es die Franchise zwischen 2018 und 2020 bereits einmal gab -, NJ/NY Gotham FC dagegen ein Urgestein der Liga.
Seit 2009 gibt es an diesem Standort professionellen Fußball, für amerikanische Verhältnisse eine Ewigkeit: Die NWSL ist schon der dritte Anlauf, eine professionelle Frauenfußball-Liga zu gründen, und zwei Vorläufer waren - mitsamt der Franchises - gescheitert. In New Jersey aber wurde auch nach dem Scheitern der WPS im Jahr 2012 nicht aufgegeben und ein neuer Versuch gewagt.
Dabei ging der Verein einige Imagewandel durch. Kann man noch vom gleichen Klub sprechen, wenn sich Name, Farben, Personal und Standort geändert haben? Früher war die Franchise als Sky Blue FC bekannt, die Farben dunkelblau und orange, der Spielort ein Fußballfeld weiter nördlich mit einer Kapazität von 5000 Zuschauern. Ein großes Rebranding fand 2021 statt. Die Krone der Freiheitsstatue sollte für den neuen Anspruch, ein internationaler Klub zu werden, stehen. 2021 war das noch fast verwegen, Sky Blue FC das Sorgenkind der Liga.
Doch dazu später mehr, wenige Jahre später ist das kaum zu spüren. Heute sind die "Bats" - ein Spitzname aus alten Zeiten - amtierender Meister und die sportliche Heimat der deutschen Nationaltorhüterin Ann-Katrin Berger sowie zahlreicher amerikanischer (Ex)-Nationalspielerinnen: Rose Lavelle, Crystal Dunn, Midge Purce und Kelley O'Hara, um nur einige Namen zu nennen. Ein "All-American Dream Team".
Gegen Utah, die Tabellenzwölften, ist Gotham klar favorisiert. Ein Blick ins Publikum zeigt viele Gemeinsamkeiten zum Geschehen in Deutschland: Die Red Bull Arena ist etwa zu einem Drittel gefüllt, viele Familien mit Kindern und Frauen sind gekommen. Ein kleiner Ultra-Block, der aus der Supporter-Group "Cloud Nine" besteht, macht Stimmung: Sogar Pyrotechnik - ganz legal, kein Verbrechen - kommt zum Einsatz.
Aber ähnlich wie in der Frauen-Bundesliga besteht dieser harte Kern aus Unterstützern aus nur einer Handvoll Fans. Deren Strategie: Aggressives Trommeln. Schon vor dem Match stimmt eine Trommlerinnengruppe auf dem Rasen verschiedene Rhythmen an, auf der Tribüne geht das über 90 Minuten weiter.
Anfeuerungsrufe sind dagegen eher spärlich zu hören, stattdessen schreien einige "Touchdown!" oder ständig, an die Gegner gerichtet, "Cheaters!", was für das europäische Ohr erstmal seltsam klingt. Liebstes Fan-Accessoire: Gelbe und Rote Karten aus Pappe, die bei gegnerischen Fouls hochgehalten werden. "Allez, Gotham, allez" konnte sich dagegen nicht durchsetzen, und auch eine umgedichtete Version von "Country Roads" als "Gotham Roads" hat wenig Erfolg.
Ein in Europa bekanntes Problem: An einer lauten Fußballstimmung sind die vielen Wochenend-Ausflügler hier weniger interessiert. Der Hauptunterschied in puncto Stimmung liegt hier schlicht bei der Zahl der Fans: Die 7680 Zuschauer sind, gemessen am NWSL-Maßstab, eher mau. Dort kommen durchschnittlich etwas mehr als 10.000 Fans, während in Deutschland alles über 5000 eher außergewöhnlich ist.
Aber in den USA sind die Zuschauer deutlich ungleicher verteilt als in Deutschland: Zuschauermagneten wie Angel City und die Portland Thorns ziehen fast immer 15.000 Fans oder mehr an und heben den Schnitt so deutlich. Gotham dagegen gehört wie Louisville oder die Houston Dash zu denen, die um mehr Fans kämpfen. Eine saftige Erhöhung der Preise beim Meister dürfte da nicht geholfen haben.
Bei den Portland Thorns gibt es oft große Choreografien - in Gotham (noch) nicht / Soobum Im/GettyImages
Bei einer Stadt wie New York gleich nebenan hat man das Gefühl, dass doch eigentlich mehr möglich sein müsste. Andererseits ist die Konkurrenz im "Big Apple" mit den Yankees, Jets, Knicks oder auch dem aktuell sehr erfolgreichen Frauen-Basketballteam New York Liberty natürlich stark. Auch wenn sich die Gotham-Verantwortlichen sicher noch etwas vollere Ränge wünschen würden, ist der Gesamteindruck in der Arena bereits ein anderer als in Deutschland.
Das Stadion ist hochprofessionell, es gibt nicht bloß eine Frittenbude, sondern zahlreiche Stände mit Essen und Merch. In dieser Form findet man das in der Frauen-Bundesliga nur bei den "Highlight-Spielen", wo ein enormer Aufwand betrieben ist. Hier ist das Alltag.
Gotham zeigt sich gerne als Erfolgsstory: In der Debütsaison 2009 direkt der Titel, und nun, nach einer sportlichen Talfahrt wieder die Anknüpfung an glorreiche Zeiten. Aktuell liegt Gotham auf Platz drei, hat noch alle Chancen in den Playoffs, die Ende November starten. Aber nicht alles, was glänzt, ist Gold.
Das gilt gerade in den USA, wo es sich lohnt, doppelt hinzuschauen. 2018 sorgte eine Welle an Medienberichten über den Klub, damals noch Sky Blue FC, für Empörung. Ehemalige Mitarbeiterinnen und Spielerinnen erzählten damals von Bedingungen, die von professionell noch deutlich weiter entfernt sind als New Jersey von Manhattan.
Von unzureichenden Wohnmöglichkeiten mit kaputten Fenstern und verstopften Klos war die Rede, von Spielerinnen, die bei einem älteren Mann wohnten, der gerne unangemessene Kommentare machte. Manche Spielerinnen brauchten von ihrer Unterkunft, die vom Verein gestellt wurde, anderthalb Stunden zum Stadion.
Die Trainingsbedingungen waren miserabel, mit einem unebenem Rasen, einer winzigen Umkleide ohne Lüftungssystem und ohne Duschen - zu denen mussten die Spielerinnen erst mit dem Auto fahren. Beschwerden wurden abgeschmettert: Der Manager hielt die Spielerinnen für sowieso schon verwöhnt.
Über all das berichteten die US-Medien Once a Metro und Deadspin. Ein ehemaliger Co-Trainer sagte Deadspin, in den Häusern der Spielerinnen würde man "selbst seinen Hund nicht schlafen lassen". All das, um Geld an allen Ecken und Enden zu sparen. Der Haupteigentümer des Klubs, New Jerseys Gouverneur Phil Murphy, prahlte gerne mit seinem Engagement für den Frauenfußball: Seine Motivation für den Einstieg im Klub sei gewesen, seine Tochter zu inspirieren und ihr zu zeigen, was Frauen alles erreichen können. Wie nobel!
Phil Murphy gibt sich gerne als ehrenwerter Förderer des Frauensports - aber es hagelte schon Kritik / Eduardo Munoz Alvarez/GettyImages
Tatsächlich zahlte er dann nur das "bare minimum", alles war auf Kante genäht. Zahlreiche Ex-Spielerinnen drängten Murphy dazu, den Verein zu verkaufen. Heute ist er weiter Eigentümer, zusammen mit prominenten Namen wie Basketballspielerin Sue Bird und Ex-Footballer Eli Manning.
Gotham war auch einer der Klubs, die im Missbrauchsskandal in der NWSL involviert waren - Christy Holly, dem von mehreren Spielerinnen schweres Fehlverhalten vorgeworfen wird, trainierte den Klub ein Jahr lang und verließ den Verein trotz sportlichen Erfolges ohne Erklärung. Später wurde bekannt, dass er wegen seines Fehlverhaltens gefeuert wurde. Aber da Gotham das nicht öffentlich machte, konnte Holly später einen Job bei Racing Louisville bekommen und weiteren Schaden anrichten.
Managerin Alyse LaHue wurde ebenfalls gefeuert, ohne einen Grund anzugeben - The Athletic fand heraus, dass sie gegen die Anti-Mobbing-Policy der Liga verstoßen hatte. Und Ex-Spielerin Nadia Nadim beschuldigte die Verantwortlichen sogar, ihre Unterschrift für eine Vertragsverlängerung gefälscht zu haben.
Alles Schnee von gestern? Wie gründlich der Klub seine turbulente Vergangenheit aufgearbeitet hat, ist schwer einzuschätzen. Es gibt aber Anzeichen, dass sich einiges geändert hat. Inzwischen ist die ehemalige Spielerin Yael Averbuch West die Managerin von Gotham.
Sie betont, dass ihr das Wohl der Spielerinnen wichtig ist: "Ich möchte, dass die Spieler nicht nur glücklich sind, weil es dann auf dem Spielfeld besser läuft, sondern weil wir ein professionelles Umfeld sein wollen", sagte sie 2022 gegenüber The Equalizer: "Als Profisportlerin, vor allem in dieser Liga, gibt es so viele Unbekannte und so viel Stress, was mit dir, deinem Team oder der Liga passiert. Unsere Aufgabe als Verein ist, das zu minimieren." Averbuch Wests Engagement wirkt glaubwürdig. Sie hat Gotham wieder an die Spitze geführt und gleichzeitig einiges umgekrempelt.
Das Gesicht an der Spitze: Managerin Yael Averbuch West / Pacific Press/GettyImages
Die Bedingungen, einst ligaweit als unterirdisch bekannt - Sam Kerr sagte einst, sie würde gerne jede einzelne ihrer Ex-Mitspielerinnen eigenständig aus New Jersey wegbringen -, sind inzwischen top. Aber die Vergangenheit zeigt, wie fragil der Status Quo sein kann. NJ/NY Gotham FC ist ein Klub, an dem sich vieles zeigen lässt, fast schon exemplarisch. Die vielen Umbrüche über die Jahre, die Spielerinnen und Verantwortliche müde und mürbe gemacht haben, die gescheiterten Ligen.
Die Gespenster der Vergangenheit, und der noch immer schwierige Umgang mit den vielen Missbrauchsvorwürfen. Bei Gotham spielt inzwischen eine der Hauptzeuginnen: Sinead O'Farrelly, die gemeinsam mit ihrer Ex-Teamkollegin Mana Shim den Stein ins Rollen brachte.
Auf der anderen Seite zeigen sich in New Jersey auch die Erfolge von heute und das Versprechen vom Glanz der Zukunft. Das Versprechen einer besseren Zukunft, garantiert etwa durch den neuen TV-Rechte-Vertrag der Liga, der 60 Millionen Dollar pro Saison einbringt. Ein uramerikanisches Versprechen also, die Hoffnung auf das große Geld und den Ruhm. Womit wir fast schon wieder bei der Freiheitsstatue sind, die genau dieses Versprechen - selten eingelöst, viel zelebriert - verkörpert. Davor aber noch ein kleiner Schlenker zurück nach Harrison, New Jersey.
Die Stimmung in der Arena erreicht schon kurz nach Anpfiff ihren Höhepunkt: Gotham geht schon in der dritten Minute gegen die Neulinge aus Utah in Führung. Einen kleinen Dämpfer gibt es, als Ann-Katrin Berger kurz darauf mit schmerzverzerrtem Gesicht auf dem Boden liegt.
Wenige Monate nach ihrer Ankunft in den USA ist die deutsche Nationaltorhüterin in Gotham schon sehr beliebt: "AKB, AKB"-Rufe schallen durch das Stadion, jemand hat ein "AKB FC"-Pappschild dabei. Nach der Schrecksekunde verlebt sie einen ruhigen Mittag, Gotham verwaltet die Führung und bringt das 1:0 souverän - aber auch ein bisschen langweilig - nach Hause.
Ann-Katrin Berger: Bei den Fans beliebt / Erin Chang/ISI Photos/GettyImages
Der Fußball in der NWSL wird oft als ganz anders beschrieben als in Europa, Spielerinnen erzählen vor allem von den harten athletischen Anforderungen. Wer nicht permanent im Vollsprint an der Seitenlinie entlangrennen kann, ist für diese Liga nicht geeignet. Statt ausgiebiger Ballbesitzphasen folgt oft Konter auf Konter. Bei den meisten NWSL-Spielen stimmt das tatsächlich. Gotham, mit Coach Juan Carlos Amoros, der auch schon in Spanien und bei Tottenham gearbeitet hat, verfolgt aber einen "europäischeren" Ansatz, lehnt sich auch gerne mal zurück.
Am Ende leuchtet das 1:0 von den großen Tafeln, die Trommlerinnen schlagen die letzten Rhythmen an. Noch eine letzte Fackel wird gehoben, als der Schlusspfiff brennt: Die kleine Ultra-Gruppe brennt ein wenig Pyrotechnik ab, dann löst sich alles auf.