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·24. Juni 2024
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·24. Juni 2024
Deutschland ist Gruppensieger bei der Heim-EM und darf sich freuen. Aber bis zum Achtelfinale am Samstag wartet noch eine Menge Arbeit
Guten Morgen, liebe Fußballfreunde!
Niemand darf sich beschweren, die deutsche Nationalmannschaft hat ihre Arbeit bisher vortrefflich erledigt. Sieben Punkte aus drei EM-Spielen, Gruppensieg mit 8:2 Toren, Achtelfinale am Samstag erreicht: Besser geht’s kaum.
Trotzdem kommt man an einer wichtigen Frage nicht vorbei, und vielleicht entscheidet die Antwort sogar über den weiteren Turnierverlauf. Diese eine Frage lautet: War das 1:1 gegen die Schweiz ein Dämpfer oder eine Erlösung ?
Bundestrainer Julian Nagelsmann verweist auf die Überlegenheit im Spiel: Seine Mannschaft hat mehr Torschüsse (19:4) abgegeben, mehr Zweikämpfe gewonnen (58 Prozent) und mehr Ballbesitz verzeichnet (70 Prozent).
Doch die Zahlen sind trügerisch. Erstens weil niemand im Stadion das Gefühl hatte, dass Deutschland den Gegner im Griff hatte. Der Rasen war glitschig und machte einen geordneten und zielgerichteten Spielaufbau unmöglich.
Zweitens weil die Schweizer ein probates Mittel gegen das deutsche Flügelspiel mit Florian Wirtz und Jamal Musiala fanden, indem sie immer wieder einen Abwehrblock in Überzahl bilden konnten. Der war unüberwindbar.
Beides ist nicht schlimm. Wenn es einen passenden Zeitpunkt zum Überdenken der bisher erfolgreichen Strategie gibt, dann bei diesem dritten Gruppenspiel, wo vielleicht Platz eins in Gefahr war, aber nicht der Einzug ins Achtelfinale.
Nagelsmann hat diese Woche im EM-Quartier in Herzogenaurach mehr zu tun, als die Daten aus der Statistik auszuwerten. Jetzt beginnt die Zeiten der Anpassungen. Das Gute ist: Er hat die Qual der Wahl. Das war beim DFB nicht immer so.
Bis zum ersten K.o.-Spiel am Samstag in Dortmund muss die Innenverteidigung nach Jonathan Tahs Gelbsperre neu sortiert werden. Vermutlich rückt jetzt Nico Schlotterbeck rein. Dabei wird es nicht bleiben.
Links ist David Raum bei Flanken gefährlicher als Maximilian Mittelstädt, der seinen Freiraum in der ersten Halbzeit nicht nutzen konnte. Raum punktet, weil er das Ausgleichstor perfekt vorbereitet hat.
Fraglich ist auch, ob Kai Havertz wirklich als Stürmer beginnen sollte. Füllkrug hat sein zweites EM-Tor erzielt. Man kann jetzt sagen: Als Joker ist er unersetzbar. Aber vielleicht schießt er auch die Tore von Anfang an.
Was diese Woche nicht passieren darf: Dass man sich vormacht, wie gut man in Wirklichkeit war. Die Schweiz war der erste Brocken bei der EM. Die nächsten Gegner werden ungleich schwerer.
Einen strebsamen Montag wünscht
Euer Pit Gottschalk
Von Marco Mader, Oliver Mucha und Marco Krummel
Als Niclas Füllkrug in der zweiten Minute der Nachspielzeit den Gruppensieg sicherte, flog in der Arena in Frankfurt beinahe das geschlossene Dach weg. Dass der Joker nur den Treffer zum 1:1 gegen die Schweiz erzielt hatte (90.+2), tat dem Jubel beim Publikum keinen Abbruch - und schon gar nicht der schier grenzenlosen Erleichterung bei Julian Nagelsmann.
"Ich glaube wir haben das Stadion aufgeweckt, es war auch ein verdienter Ausgleich. Die Schweiz ist ein unangenehmer Gegner, aber wir haben gut dagegengehalten", sagte Nagelsmann bei der ARD. Auf dem Rutsch-Rasen war aber auch zu oft der Wurm drin, außerdem gibt es Sorgen. Im Achtelfinale ist Jonathan Tah gesperrt, obwohl Nagelsmann behauptete: "Die Gelbe Karte ist ärgerlich, weil es keine war."
Zudem fehlt womöglich Antonio Rüdiger wegen einer Oberschenkelverletzung. "Hoffentlich nichts Schlimmes", sagte Nagelsmann bei MagentaTV. Zunächst aber war auch Toni Kroos froh über das späte Glücksgefühl: "Wir sind glücklich, dass wir es geschafft haben, wir haben zum wiederholten Male gezeigt, dass wir an uns glauben bis zum Ende."
Deutschland spielt damit am Samstag (21 Uhr) in Dortmund gegen den Zweitplatzierten der Gruppe C. Wer das sein wird, steht allerdings erst am Montagabend gegen 23.00 Uhr fest, wenn England (4 Punkte) und Slowenien (2) sowie Dänemark (2) und Serbien (1) gespielt haben. Rein rechnerisch kann Deutschland auf jede dieser vier Mannschaften treffen. Und Kapitän Ilkay Gündogan ist gute Dinge nach dem späten Ausgleich: "Ich glaube, dass man solche Spiele auch braucht. Das kann noch einmal Kräfte bringen."
Die Auswahl von Nagelsmann wirkte sehr fahrig, wusste allerdings kämpferisch zu überzeugen - sie biss sich nach dem Dämpfer durch Dan Ndoye (28.) allen Widerständen zum Trotz zurück ins Spiel. "Nicht nur ich - alle Joker haben gut funktioniert", sagte Torschütze Füllkrug. Die Flanke des eingewechselten Raum "kam perfekt. Das war ein schöner Moment für uns als Team, das kann schon entscheidend sein. Das verändert die Situation."
Nagelsmann hatte auf Experimente verzichtet. Seine Startelf im dritten Gruppenspiel war wie angekündigt dieselbe wie im ersten und im zweiten - zuletzt hatte dies bei der WM 2002 Rudi Völler durchgezogen. Seine erste Elf habe "in dieser Konstellation" ja auch noch nicht "unzählige Spiele bestritten", sagte Nagelsmann. Umbauen muss er wegen Tahs Sperre nun dennoch.
Was Nagelsmann auch beschäftigte: der Rasen. "Du hast keinen Halt auf dem Platz", bemängelte er noch vor dem Anpfiff in der ARD. Tatsächlich holperte der Ball über das Geläuf, was Edeltechniker wie Kai Havertz, Jamal Musiala oder Florian Wirtz vor Probleme stellte. Ebenso der Plan der Schweizer, hoch und aggressiv zu verteidigen.
Dennoch lag der Ball nach einem formidablen Weitschuss von Robert Andrich bald im Netz - der Jubel mündete in Pfiffe gegen Schiedsrichter Daniele Orsato aus Italien, der den Treffer wegen eines Fouls von Musiala an Michel Aebischer und dem Studium der Videobilder zurücknahm (17.). Nagelsmann war außer sich.
Keine Einwände gab es beim Tor von Ndoye vom FC Bologna. Er nutzte die erste Chance für seine Mannschaft, die ausgestreckte Fußspitze von Antonio Rüdiger hob das Abseits auf. Der erste Rückstand für die deutsche Mannschaft im Turnier zeigte zunächst Wirkung.
Das änderte sich in der zweiten Halbzeit nur bedingt. Das deutsche Spiel wirkte fahrig, hektisch, es hakte an fast allen Ecken und Enden. Das Bemühen um den Ausgleich hatte wenig Struktur, es glich phasenweise einem verzweifelten Anrennen. Hinzu kam Abschluss-Pech: Musila scheiterte mit einem wuchtigen Schuss an Yann Sommer, Ilkay Güdogan vergab den Nachschuss (50.).
Nagelsmann reagierte. Er brachte Nico Schlotterbeck (61.), um ihn für das Achtelfinale schon mal Spielpraxis an der Seite von Rüdiger zu verschaffen. Er ersetzte zeitgleich Maximilian Mittelstädt durch David Raum. Und er brachte den Hoffenheimer Mittelstürmer Maxilian Beier (65.), der kurz darauf bei einer Chance von Joshua Kimmich im Strafraum geklammert wurde (70.). Der VAR entschied: Kein Elfer.
Die Schweiz begann, auf die Uhr zu schielen, großes Interesse an Offensive bestand beim Team von Trainer Murat Yakin nicht mehr. Leroy Sane kam für Wirtz, Niclas Füllkrug für Musiala - doch die beste Chance hatte zunächst Havertz: Sein Kopfball landete auf dem Tornetz. Der von Füllkrug dann nach Flanke von Raum im Netz.
Marco Mader, Oliver Mucha und Marco Krummel sind SID-Redakteure
21 Uhr, ZDF/Magenta: Gruppe B: Albanien - Spanien, Kroatien - Italien
Der härteste Teil dieser EM beginnt jetzt, und für mich bedeutet das eine Gefühlspremiere. Früher fand ich Gruppenphasen langweilig. „Wird Zeit, dass die Loser-Truppen rausfliegen und das Turnier endlich richtig anfängt“, sagte ich immer. Diesmal ist alles anders.
Die Welle der Begeisterung hat auch mich voll erfasst. Es geht bei dieser EM nicht mehr allein ums Weiterkommen, sondern um die Freude. Ganz im Sinne von Beethovens Ode an dieselbe mit Schiller-Text: „Alle Menschen werden Brüder“ (sorry, damals wurde nicht gegendert). Freude an schönem Fußball, an Stimmung auf einem völlig neuen Niveau, an Trikottapeten auf den Tribünen, wie ich sie noch nie gesehen habe.
Es gibt keine Mannschaft, die ich in den letzten Tagen nicht aus dem einen oder anderen Grund in mein Herz geschlossen habe. Am liebsten wäre mir, sie kämen alle weiter, und wir spielten die größte Knock-out-Runde aller Zeiten.
Aber bis jetzt hat es bereits zwei erwischt: Die armen Schotten, die so aufopferungsvoll kämpften und scheinbar mehr Fans mit nach Deutschland brachten, als sie Einwohner haben. Sie sangen, als stünden sie im Endspiel. Sie kämpften bis zum Umfallen. Das Schlimme daran: Sie fielen am Ende wirklich um.
Und Polen, das es nur in zwei Zuständen gibt: mit Robert Lewandowski oder ohne. Ausgerechnet in Berlin, der westlichsten Hauptstadt ihres Landes, ereilte die Polen das schlimmste EM-Schicksal, sie flogen raus. Tränen flossen.
Heute geht es weiter mit dem Ausscheidleid. Ich wage den Gedanken kaum, aber Kroatien und Albanien könnten morgen schon zu Hause ankommen (falls sie sich nicht für die Deutsche Bahn entscheiden). Ich kann mich einfach nicht durchringen, einer der beiden Nationen das EM-Aus zu wünschen.
Den Kroaten nicht, weil ihre Fans so unfassbar schön mitleiden und -feiern und ich ihre Badekappen liebe. Weil wir Luka Modric womöglich auf diesem Level nie mehr erleben. Der Mann hat jetzt schon bloß Luft für 30 Minuten, er ist bei der nächsten WM 40 Jahre alt und wird dann vermutlich aussehen wie 75.
Den Albanern wünsche ich den Durchmarsch mehr als allen anderen. Wie kann Albanien überhaupt so weit gekommen sein? Wie großartig haben Spieler und Fans auf dem Platz und auf den Tribünen gekämpft? Wie laut kann man seine Hymne singen? Wenn es Gerechtigkeit auf Erden gibt, zieht Albanien ins Achtelfinale ein. Und Italien scheidet aus? Auch undenkbar eigentlich.
Georgien, Ukraine? Niemand darf denen ernsthaft das Gruppen-Aus wünschen.
Ich könnte lange so weiterschreiben, denn fast alle Gäste traten bei dieser EM bisher wie solche auf, so sympathisch, gutgelaunt und feiernd, und sie brachten alle Geschenke mit: sich selbst.
Sauer aufgestoßen ist mir bisher nur das elende Hymnenausgepfeife der Serben und Türken. Die Türken aber taten das im zweiten Spiel nicht mehr, und ihre Fans sind sowieso eine Klasse für sich. Laut bis zur Schmerzgrenze. Er habe das Gefühl, sagte der ZDF-Reporter während des Portugal-Spiels, sein Tisch stehe direkt neben einer Landebahn.
Die Türken sorgten dafür, dass die Dortmunder plötzlich dachten: Schon komisch, war nie aufgefallen, wie leise es bei BVB-Heimspielen ist.
Ja, dieses Turnier hat’s mir angetan. Es ist das schönste, stimmungsvollste, beste, das ich je verfolgt habe – und ich gucke seit ’74. Lasst die EM nie zu Ende gehen!
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